SWB: Welchen Blick haben Sie als zugezogener Rheinländer angesichts des Jubiläums „1050 Jahre Torgau“ in diesem Jahr auf Stadt und Leute?
Manfred Boes: Die Frage ist nur unabhängig von meiner Person zu beantworten. Torgau ist eine der wenigen Renaissancestädte in Deutschland mit einem einzigartigen Schloss, welches es in diesem Land kein zweites Mal gibt. Dieses Pfund wurde leider bis heute nicht richtig vermarktet. Torgau ist eine bemerkenswerte Stadt.
Fühlen Sie sich hier mittlerweile heimisch?
Ja, seit immerhin 26 Jahren. Die Frage, ob ich hier meinen Lebensabend verbringen möchte, habe ich mir in fast 3000 Metern Höhe auf dem Kitzsteinhorn gestellt.
Und wie für sich beantwortet?
Ich habe gern in Köln gelebt. Gehe ich also in meine alte Heimat, dort wo ich geboren bin, zurück? In Torgau sind mir viele Leute ans Herz gewachsen. Zudem bedeuten fließende Gewässer für mich Ruhe. Das war am Rhein schon so und ist auch an der Elbe nicht anders. Woanders wäre ich wieder auf der Suche nach Identität und Freunden, und für einen Neuanfang bin ich nicht mehr der Jüngste.
Wie kommen Sie mit der Torgauer Mentalität, durch die harte Schale zum Kern zu kommen, klar?
Ich hatte gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Durch meine Tätigkeit bei einer Bank, die ich in Torgau geleitet habe, stand ich gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft in der Zeitung. Ich bin ein anonymes Großstadtkind – das kannte ich so gar nicht. Für Berührungsängste blieb keine Zeit. Meine damaligen Mitarbeiter schenkten mir ein Buch über die sächsische Sprache. Dadurch lernte ich Land und Leute besser zu verstehen.
Wie würden Sie einem Außenstehenden Stadt und Leute beschreiben?
Schwierige Frage. Einige Torgauer führen die preußische Zeit der Stadtgeschichte an – mit der Torgau scheinbar immer noch zu kämpfen hat. Aber wer einen richtigen Freund gefunden hat, der hier geboren ist, wird merken – wie treu die Torgauer sind. Das ist sehr wertvoll.
Torgau atmet Geschichte. Was ist für Sie das Faszinierende?
Für mich fußt die Stadt auf vier Säulen: Der Ersterwähnung 973 mit dem Fund von Scherben, welche den Beginn der Siedlungsgeschichte dokumentierten. Dann die drei großen „R’s“ – Renaissance, Residenz und Reformation, welche die Stadt im 15. und 16. Jahrhundert prägten. Auch das Thema Frieden, wofür Torgau gleichbedeutend steht, weil hier Menschen, die zuvor auf sich geschossen haben, das Gewehr auf den Boden legten und Frieden schlossen. In dessen Folge befeuerte das Treffen an der Elbe die Konferenz von San Francisco – der Ausgangspunkt für die Vereinten Nationen. Und natürlich die Elbe als Strom von der Quelle im Riesengebirge bis zur Mündung in die Nordsee. Als vierte Säule führe ich die Torgauer Alleinstellungsmerkmale auf.
Die da wären?
Schloss Hartenfels, das größte erhaltene Schloss der Frührenaissance, die Aufführung der ersten Oper in deutscher Sprache Dafne, Katharina von Bora gleichbedeutend mit sozialem Engagement und der einzigen Frau in der Geschichte Torgaus mit Weltruf sowie die Internationale Sächsische Sängerakademie.
Sie gelten als ausgesprochener Kenner von Schloss Hartenfels. Welche Geschichte hinter der Geschichte gibt es noch zu erzählen?
Ich habe bei meinen Führungen oft über Geheimnisse und Gerüchte berichtet. Beispielsweise soll Napoleon Gold hinterlassen haben und er wollte den Wendelstein einpacken. Musste er gar nicht, weil im französischen Blois an der Loire 40 Jahre früher ein ähnliches Bauwerk errichtet wurde. Die 7.000 Menschen, die ich durch das Schloss geführt habe, sind ein Teil von mir. Ich habe bei meinen Führungen versucht, das Schloss für die Gäste in fünf Minuten quasi neu zu bauen. Zum Schluss bewegten wir uns unterirdisch – vom Lapidarium bis zum Wendelstein. Das Schloss von unten zu erklären, ist faszinierend. Leid tut mir, dass es heute als Tourist nicht mehr möglich ist, eine ganzheitliche Schlossführung zu bekommen. Viele Räume sind nicht zugänglich.
Viele Persönlichkeiten haben die Stadt geprägt. Welche hat Sie beeindruckt?
Natürlich die drei Kurfürsten des 15. und 16. Jahrhunderts, die Torgau zu einem unermesslichen Glanz verholfen haben. Die Stadt hatte damals mehr Einwohner als Dresden. Katharina von Bora habe ich angeführt. Aus der Neuzeit fallen mir der leider schon verstorbene Walfried Schöne und Herbert Schedina, ohne die es die Belebung des Elbe Day nie gegeben hätte, ein. Der ehemalige Kirchenmusikdirektor Ekkehard Saretz ist ein faszinierender Organist, der viel für Torgau bewegt hat. Das Engagement von Prof. Elvira Dreßen und die von ihr gegründete Internationale Sächsische Sängerakademie ist etwas ganz Besonderes. Durch sie kommen Sängerinnen und Sänger aus der ganzen Welt nach Torgau. Sie erzählen Zuhause von der Stadt, nehmen etwas mit von hier. Nicht zu vergessen ist Dr. Jürgen Herzog. Ohne ihn hätte vieles über die Stadtgeschichte gar nicht das Licht der Welt erblickt. Ansonsten möchte ich mich entschuldigen, wenn ich jemand vergessen habe.
Warum ist Torgau trotz des biblischen Alters auch für die Jugend interessant?
Es gibt viele Veranstaltungen in allen Schulen wie Theateraufführungen, Demos und Klimadiskussionen, wo sich Jugendliche wiederfinden und sich mit Themen der Zeit auseinandersetzen. Nicht zu vergessen die Jugendherberge, die junge Generationen in die Stadt bringt.
Welche Zukunft liegt vor Torgau?
Wofür ich seit Jahren kämpfe: Torgau benötigt eine entsprechende Vermarktung als Stadt der Renaissance. Das hat man bis heute nicht geschafft. Ideen, wie die Gründung einer GmbH, oder die Bündelung der Kräfte gab es – aber alles ist im Sande verlaufen. Dabei hat die Stadt soviel Schönes, Wertvolles, Historisches und Internationales. Mein Tipp: Ein entsprechendes Marketing-Projekt sollten Profis mit dem Blick von Außen erstellen.
Sind Sie in das Jubiläumsprogramm involviert?
Ich werde im September/Oktober Lesungen an verschiedenen Veranstaltungsorten zu „Frauen der Weltgeschichte und 33 Frauen in der Geschichte Torgaus“ halten.
Gespräch: H. Landschreiber